Morgennebel über Nesselwang (Bild: pixabay) |
Nesselwang,
ein kleiner Marktort im Ostallgäu, am Fuß von Alpspitz und Edelsberg, ist
beliebt bei Skifahrern und Sommerfrischlern gleichermaßen. Herrliche
Landschaften, kleine Dörfer, Wälder und Seen säumen die Zugstrecke, als wir von
Kempten bis auf etwa 800 m hinauffahren. Man muss auf die Stationen achtgeben, Nesselwang
hat nur einen Bedarfshalt. Wir klettern am Ziel aus dem Zug, der kleine Bahnhof
ist weit davon entfernt, barrierefrei zu sein, wirkt auch ziemlich vernachlässigt.
Am Bahnhof (Bild: Harald Walter) |
Jens, unser
Gastgeber, holt uns pünktlich ab, führt uns durch einen kleinen Park ins Dorf,
das recht beschaulich wirkt. Ein großes Schild weist auf einen Brauereilehrpfad
hin. Früher, erzählt uns Jens, war auf den Dorfstraßen kein Durchkommen – bevor
die Autobahn gebaut wurde, wälzte sich unablässig der Verkehr hier entlang; da
hatten Fußgänger das Nachsehen. Wir kommen in die Ortsmitte. Gegenüber der
Kirche ist ein großer Neubau mit einer Anwaltskanzlei, Wohnungen, einem Café
mit Außensitzen, die jetzt nicht besetzt sind, es ist ja Winter. „Wir sind da“,
erklärt Jens und schließt eine Tür auf.
Im ersten
Stock betreten wir eine Art Wohnung, ein weiter Flur nimmt uns auf, es stehen
Pflanzen herum, eine alte Nähmaschine, eine Garderobe, an den Wänden gerahmte
Fotos vom alten Nesselwang. Hier ist die Intensivpflege-Wohngemeinschaft der
„Heimbeatmungsservice Brambring Jaschke GmbH“, die wir heute besuchen.
Aufenthaltsraum mit Küche (Bild: Dieter Walter) |
Alles
ist großzügig angelegt, der zentrale Raum ist riesig, beherrscht von einem
großen Tisch mit ein paar Stühlen und genügend Platz für mehrere Rollstühle. An
eine Seite eine offene Sitzgruppe, ein großer Fernseher, kleine Tischchen, auch
hier genügend Platz für mehrere Rollstühle. Unser Gastgeber begibt sich in die
kleine Küche auf der anderen Seite des Raumes, bietet uns Getränke an, setzt
einen Topf mit Weißwürsten auf, unser Begrüßungs-Imbiss. „Schaut Euch um“, sagt
er und weist uns auf die große Balkonterrasse hin, die die ganze Längsseite des
Raumes jenseits der großen hellen Fenster säumt. „Hier kann man sich im Sommer
besonders wohlfühlen“, versichert Jens, „da stehen draußen große Kübel mit
Pflanzen.“
Die große Dachterrasse, Blick zur Kirche (Foto: Jens Huberti) |
Er stellt die
Getränke auf den Tisch, erzählt uns, dass er jetzt seit über einem Jahr mit
seiner Frau hier lebt. Claudia ist die Patientin, die eine Intensivpflege
braucht. Nach einem Zwischenfall in der Nähe von Eisenach, bei dem sie sich
verschluckte und ein Klumpen in der Luftröhre steckte, musste reanimiert werden
und erlitt einen Bolus, das ist eine Fremdkörper-Aspiration, wobei dieser
Fremdkörper die oberen Atemwege verstopft und keine Luft mehr in die Lunge
lässt. Das führt oft zum Kreislaufstillstand, häufig zum Tod. In diesem Fall
entstand durch die fehlende Sauerstoffversorgung ein schwerer Hirnschaden, Claudia
musste intensiv versorgt werden, brauchte eine Reha, die aber nicht zum
gewünschten Erfolg führte, sie wachte nicht auf. Über verschiedene Stationen
kam sie hierher in diese Pflegeeinrichtung. Inzwischen sind die Vitalfunktionen
fast wieder normal, die Verständigung mit ihrem Mann klappt noch schwer, in
erster Linie über Mimik und Augenzwinkern, man braucht eine Menge
Einfühlungsvermögen. Und Geduld.
Jens gibt die
Hoffnung nicht auf. Er ist froh, dass er eine kleine Wohnung hier im Hause
beziehen konnte, eine Etage über der WG, und dass sein Arbeitgeber in Augsburg
ihm die Möglichkeit gegeben hat, seine Zeit aufzuteilen – drei Tage ist er nun
in Augsburg, die anderen Tage hier, bei seiner Frau, wo er sich liebevoll um
sie kümmern kann. Er hat die schönsten Möbel aus der bisherigen Wohnung
hergeschafft, um ihr Zimmer gemütlich einzurichten, ein paar Bücher, Souvenirs
und andere Gegenstände runden das Bild ab, wie ich später sehen durfte.
Als er die
Weißwürste serviert, gesellt sich Andreas Pröbstle zu uns, der pflegerische
Leiter des Dienstes. Wir erfahren von ihm Einiges über das Konzept – zum
Beispiel, dass die Wohngemeinschaft gemeinsam entscheidet, wer aufgenommen
wird. Und dass der Pflegedienst nicht der Hausherr ist, sondern die Versammlung
der Patienten, der Pflegedienst ist nur Mieter hier. Die Patienten sind hier zu
Hause, schwerstpflegebedürftige Menschen, die zum Teil auch beatmet werden
müssen. Das war früher nicht in einem Zuhause möglich, aber dank moderner
Medizintechnik wird das immer praktikabler. In der Nesselwanger WG geht man
noch einen Schritt weiter: Die Pflege findet in den Einzelzimmern statt, in den
Gemeinschaftsräumen soll man sich einfach zuhause fühlen. Und das kann man
wirklich. Es herrscht eine private und entspannte Atmosphäre.
Wir besuchen
Claudia in ihrem Zimmer nur kurz, denn wir wollen uns nicht aufdrängen, nicht
den Eindruck einer „Besichtigung“ erregen. Stattdessen lassen wir uns zwei noch
unbelegte Räume zeigen – großzügig angelegt, mit separatem Toilettenraum, französischen
Fenstern bis zum Boden, so dass man vom Bett aus das Geschehen in der Ortsmitte
beobachten kann. Ein Zimmer, dem Kircheneingang genau gegenüber gelegen,
erlaubt sogar, nach Absprache den Gottesdienst zu verfolgen. Mir fällt in den
noch leeren Räumen die Vielzahl an Steckdosen auf – hier vier, da sechs,
insgesamt über zwanzig. „Der Bauträger hat uns gefragt, ob wir die wirklich
brauchen“, erzählt Andreas Pröbstle mit einem Schmunzeln. „In Wirklichkeit sind
es nicht einmal genug.“ Immerhin, es müssen je nach Bewohner, diverse Geräte
angeschlossen werden, seien es nun Pflege-, Überwachungs- oder Beatmungsgeräte.
Die Bewohner – das Wort „Patienten“ wird hier bewusst nicht verwendet – haben
natürlich noch Eigenbedarf: Radio, Fernseher, Funkwecker und Vieles mehr.
„Manchmal reichen die Steckdosen nicht einmal“, erfahren wir.
Große Fenster erfüllen die Räume mit Licht (Bild: Dieter Walter) |
Wir bekommen
noch das Bad gezeigt, auf das Andreas Pröbstle und seine Mitarbeiterinnen
besonders stolz sind. Die Wanne steht frei in der Mitte eines großen Raums,
kann von allen Seiten mit Rollstuhl oder Kran angefahren werden, ist in der
Mitte vertieft und insgesamt verstellbar, so dass sie jederzeit den
Bedürfnissen der Bewohner angepasst werden kann.
Es ist inzwischen
Nachmittag, und wir müssen uns auf den Heimweg machen. Gern hätten wir noch
mehr vom Ort gesehen, aber da hat das Wetter nicht mitgespielt. Wir sprachen
noch eine Weile mit Jens unten im Café, über seine Hoffnungen und Pläne.
Frühling bei Nesselwang (Bild: pixabay) |
Beinahe
zögernd verabschieden wir uns. „Wir kommen wieder“, versprechen wir. Und das
ist angesichts der herzlichen Atmosphäre durchaus ernst gemeint.