Sonntag, 15. April 2018

Patienten-WG in Nesselwang – ein Besuch


Morgennebel über Nesselwang (Bild: pixabay)

Nesselwang, ein kleiner Marktort im Ostallgäu, am Fuß von Alpspitz und Edelsberg, ist beliebt bei Skifahrern und Sommerfrischlern gleichermaßen. Herrliche Landschaften, kleine Dörfer, Wälder und Seen säumen die Zugstrecke, als wir von Kempten bis auf etwa 800 m hinauffahren. Man muss auf die Stationen achtgeben, Nesselwang hat nur einen Bedarfshalt. Wir klettern am Ziel aus dem Zug, der kleine Bahnhof ist weit davon entfernt, barrierefrei zu sein, wirkt auch ziemlich vernachlässigt.

Am Bahnhof (Bild: Harald Walter)
Jens, unser Gastgeber, holt uns pünktlich ab, führt uns durch einen kleinen Park ins Dorf, das recht beschaulich wirkt. Ein großes Schild weist auf einen Brauereilehrpfad hin. Früher, erzählt uns Jens, war auf den Dorfstraßen kein Durchkommen – bevor die Autobahn gebaut wurde, wälzte sich unablässig der Verkehr hier entlang; da hatten Fußgänger das Nachsehen. Wir kommen in die Ortsmitte. Gegenüber der Kirche ist ein großer Neubau mit einer Anwaltskanzlei, Wohnungen, einem Café mit Außensitzen, die jetzt nicht besetzt sind, es ist ja Winter. „Wir sind da“, erklärt Jens und schließt eine Tür auf.

Im ersten Stock betreten wir eine Art Wohnung, ein weiter Flur nimmt uns auf, es stehen Pflanzen herum, eine alte Nähmaschine, eine Garderobe, an den Wänden gerahmte Fotos vom alten Nesselwang. Hier ist die Intensivpflege-Wohngemeinschaft der „Heimbeatmungsservice Brambring Jaschke GmbH“, die wir heute besuchen.
Aufenthaltsraum mit Küche (Bild: Dieter Walter)
Alles ist großzügig angelegt, der zentrale Raum ist riesig, beherrscht von einem großen Tisch mit ein paar Stühlen und genügend Platz für mehrere Rollstühle. An eine Seite eine offene Sitzgruppe, ein großer Fernseher, kleine Tischchen, auch hier genügend Platz für mehrere Rollstühle. Unser Gastgeber begibt sich in die kleine Küche auf der anderen Seite des Raumes, bietet uns Getränke an, setzt einen Topf mit Weißwürsten auf, unser Begrüßungs-Imbiss. „Schaut Euch um“, sagt er und weist uns auf die große Balkonterrasse hin, die die ganze Längsseite des Raumes jenseits der großen hellen Fenster säumt. „Hier kann man sich im Sommer besonders wohlfühlen“, versichert Jens, „da stehen draußen große Kübel mit Pflanzen.“
Die große Dachterrasse, Blick zur Kirche (Foto: Jens Huberti)


Er stellt die Getränke auf den Tisch, erzählt uns, dass er jetzt seit über einem Jahr mit seiner Frau hier lebt. Claudia ist die Patientin, die eine Intensivpflege braucht. Nach einem Zwischenfall in der Nähe von Eisenach, bei dem sie sich verschluckte und ein Klumpen in der Luftröhre steckte, musste reanimiert werden und erlitt einen Bolus, das ist eine Fremdkörper-Aspiration, wobei dieser Fremdkörper die oberen Atemwege verstopft und keine Luft mehr in die Lunge lässt. Das führt oft zum Kreislaufstillstand, häufig zum Tod. In diesem Fall entstand durch die fehlende Sauerstoffversorgung ein schwerer Hirnschaden, Claudia musste intensiv versorgt werden, brauchte eine Reha, die aber nicht zum gewünschten Erfolg führte, sie wachte nicht auf. Über verschiedene Stationen kam sie hierher in diese Pflegeeinrichtung. Inzwischen sind die Vitalfunktionen fast wieder normal, die Verständigung mit ihrem Mann klappt noch schwer, in erster Linie über Mimik und Augenzwinkern, man braucht eine Menge Einfühlungsvermögen. Und Geduld.

Jens gibt die Hoffnung nicht auf. Er ist froh, dass er eine kleine Wohnung hier im Hause beziehen konnte, eine Etage über der WG, und dass sein Arbeitgeber in Augsburg ihm die Möglichkeit gegeben hat, seine Zeit aufzuteilen – drei Tage ist er nun in Augsburg, die anderen Tage hier, bei seiner Frau, wo er sich liebevoll um sie kümmern kann. Er hat die schönsten Möbel aus der bisherigen Wohnung hergeschafft, um ihr Zimmer gemütlich einzurichten, ein paar Bücher, Souvenirs und andere Gegenstände runden das Bild ab, wie ich später sehen durfte.

Als er die Weißwürste serviert, gesellt sich Andreas Pröbstle zu uns, der pflegerische Leiter des Dienstes. Wir erfahren von ihm Einiges über das Konzept – zum Beispiel, dass die Wohngemeinschaft gemeinsam entscheidet, wer aufgenommen wird. Und dass der Pflegedienst nicht der Hausherr ist, sondern die Versammlung der Patienten, der Pflegedienst ist nur Mieter hier. Die Patienten sind hier zu Hause, schwerstpflegebedürftige Menschen, die zum Teil auch beatmet werden müssen. Das war früher nicht in einem Zuhause möglich, aber dank moderner Medizintechnik wird das immer praktikabler. In der Nesselwanger WG geht man noch einen Schritt weiter: Die Pflege findet in den Einzelzimmern statt, in den Gemeinschaftsräumen soll man sich einfach zuhause fühlen. Und das kann man wirklich. Es herrscht eine private und entspannte Atmosphäre.

Wir besuchen Claudia in ihrem Zimmer nur kurz, denn wir wollen uns nicht aufdrängen, nicht den Eindruck einer „Besichtigung“ erregen. Stattdessen lassen wir uns zwei noch unbelegte Räume zeigen – großzügig angelegt, mit separatem Toilettenraum, französischen Fenstern bis zum Boden, so dass man vom Bett aus das Geschehen in der Ortsmitte beobachten kann. Ein Zimmer, dem Kircheneingang genau gegenüber gelegen, erlaubt sogar, nach Absprache den Gottesdienst zu verfolgen. Mir fällt in den noch leeren Räumen die Vielzahl an Steckdosen auf – hier vier, da sechs, insgesamt über zwanzig. „Der Bauträger hat uns gefragt, ob wir die wirklich brauchen“, erzählt Andreas Pröbstle mit einem Schmunzeln. „In Wirklichkeit sind es nicht einmal genug.“ Immerhin, es müssen je nach Bewohner, diverse Geräte angeschlossen werden, seien es nun Pflege-, Überwachungs- oder Beatmungsgeräte. Die Bewohner – das Wort „Patienten“ wird hier bewusst nicht verwendet – haben natürlich noch Eigenbedarf: Radio, Fernseher, Funkwecker und Vieles mehr. „Manchmal reichen die Steckdosen nicht einmal“, erfahren wir.
Große Fenster erfüllen die Räume mit Licht (Bild: Dieter Walter)


Wir bekommen noch das Bad gezeigt, auf das Andreas Pröbstle und seine Mitarbeiterinnen besonders stolz sind. Die Wanne steht frei in der Mitte eines großen Raums, kann von allen Seiten mit Rollstuhl oder Kran angefahren werden, ist in der Mitte vertieft und insgesamt verstellbar, so dass sie jederzeit den Bedürfnissen der Bewohner angepasst werden kann.

Es ist inzwischen Nachmittag, und wir müssen uns auf den Heimweg machen. Gern hätten wir noch mehr vom Ort gesehen, aber da hat das Wetter nicht mitgespielt. Wir sprachen noch eine Weile mit Jens unten im Café, über seine Hoffnungen und Pläne.
Frühling bei Nesselwang (Bild: pixabay)


Beinahe zögernd verabschieden wir uns. „Wir kommen wieder“, versprechen wir. Und das ist angesichts der herzlichen Atmosphäre durchaus ernst gemeint.

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